Selbsterkenntnis ist Welterkenntnis
„Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird: Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf“
Goethe, HA. 13, 38
In den mannigfachen Coaching-Angeboten zur Selbsterkenntnis steht die Nabelschau hoch im Kurs. Dies ist naheliegend, schließlich möchte man sich selbst kennenlernen und da schaut man eben auf sich selbst und in sich selbst hinein. Und was findet man da nicht alles: Reflexionen auf sinnliche Wahrnehmung und Gefühle lassen ganze Empfindungswelten erblühen. Außerdem haben viele Menschen Schwierigkeiten, Zugang zu den eigenen Gedanken und Wünschen zu finden; da machen Übungen in Selbstreflexion durchaus Sinn. Auch wenn man auf diesem Wege der Selbsterkenntnis schon ein Stückchen näher gekommen ist, läßt der alleinige Blick nach Innen das Entscheidende außer acht: Sinne, Gefühle, Gedanken und Wünsche lungern nicht für sich allein in uns herum, sie sind gerichtet, auf schlau gesagt, sie sind intentional. Das heißt unter anderem, dass die Sinne Eindrücke von außen wahrnehmen, Gefühle wie Liebe oder Angst sich auf, an oder gegen etwas da draußen richten, Gedanken sich mit Gegenständen oder Situationen in der Welt beschäftigen und Wünsche sich auch nicht aus sich selbst heraus erfüllen lassen. Der ganze Mensch ist ja eigentlich ziemlich löchrig: Fünf, manchmal sechs, Sinne greifen nach draußen, Gefühle und Gedanken kreisen um andere Menschen und Dinge, der Wille wildert handelnd in der Welt. Wer sich selbst kennenlernen will, sollte also ruhig bei sich anfangen, sich dann aber schleunigst seine Mitmenschen und Lebensumstände vornehmen.
Zuhören als Aktivität
„Der eine sucht einen Geburtshelfer für seine Gedanken, der andre einem, dem er helfen kann: So entsteht ein gutes Gespräch.“
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 136.
In gewisser Weise ist Zuhören erstmal ein Nichts-Tun, ein Unterlassen, passiv. Man läßt den anderen ausreden, quatscht nicht dazwischen. Das ist schon mal ein Anfang, aber nur das mindeste. Dann hört das Passive auch schon auf. Denn der nächste Schritt wäre zwar auch eine Unterlassung, aber schon aktivisch: Man hört dem anderen zu und denkt nicht an etwas anderes, was man selbst im Kopf hat. Man unterlässt also aktiv egozentrisches Denken, verlässt den eigenen Kopf und läßt sich auf das ein, was dem Anderem in seinem Kopf rumschwirrt und von dem er gerade erzählt. Sich des Zuhörers sicher sein kann sich der Mitteilende aber schließlich nur, wenn der gut Zuhörende nicht nur Ohr sondern auch Hirn aktiviert: Gesagtes mitdenken, weiterdenken, anders denken. Wenn der eine das Mitgeteilte so zuhörend auffasst, wie es vom anderen gegeben und gemeint ist, also ohne eigne Beimischungen, wird sich Mitteilen zum Gespräch, kann Zuhören zur Hilfe werden.
Beispiele einer Philosophischen Beratung
Noah und die Sinnlosigkeit göttlichen Handelns
Noahs Tante ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er ist darüber völlig bestürzt, aber mehr noch nagt an ihm als Christ die Frustration darüber, dass Gott dieses Unfall zulassen konnte. Besonders, weil seine Tante Notfall-Ärztin war und noch so vielen Menschen hätte helfen könne. Das mache doch alles keinen Sinn, sagt er: Wenn Gott nur die guten Menschen von der Erde nimmt, bleiben doch nur die schlechten. Ich bin nun wirklich kein Christ, aber ich konnte gut verstehen, dass die Frustration über dieses Unverständnis die Trauer nur noch schlimmer macht. Natürlich gibt es in der philosophischen Tradition bibliothekenlange Debatten über das Theodizee-Problem, also darüber, wie man Gottes Perfektion in allen Belangen mit dem Übel in der Welt unter einen Hut bekommen kann. Aber das hätte ihm hier auch nicht geholfen. Und Noah hatte ja recht, wenn Gott Menschen sterben läßt, weil sie gut sind, kann man das kaum verstehen. Und eigentlich war Noah schon auf dem richtigen Weg, und das sagte ich ihm auch: Völlig richtig, Gott ist ja nicht blöd, er würde Menschen nicht sterben lassen, weil sie gut sind, das kann nicht sein Grund gewesen sein. Eher ist es verständlich, dass er seine Tante hat sterben lassen, obwohl sie gut war; eben nicht aus diesem, sondern einem anderen Grund. Leider, wie man weiß, sind Gottes Wege unergründlich und wir kennen den eigentlichen Grund nicht. Aber die Tatsache, dass seine Tante ein guter Mensch war, kann nicht der Grund gewesen sein. Danach war er sehr erleichtert, weil er diesen Denkweg plausibel fand und ihn keine Erklärungsnot mehr quälte.
Detlef und die Ohnmacht
Detlef war kürzlich mit seiner Freundin nach Berlin gezogen, und einen Job in einer telefonischen Verkaufs-Beratung fand er auch. Doch dann begann sich das Blatt zu wenden: Mit der Freundin war Schluß, der Job zwar in Ordnung, aber auch kein Lebenstraum und überhaupt, Berlin, unübersichtlich, unnahbar und Freunde findet man hier auch nicht. Das alles äußerte sich in einem Gefühl der Ohnmacht: Die Trennung erfolgte gegen seinen Willen, der Entscheidung seiner Freundin war er ausgeliefert; im Job sagen ihm immer andere, was er zu tun hat; und gegen die alte Diva Berlin käme er nicht an. Berlin war das Zentrum seines Mißvergnügens, denn schließlich begann alles mit dem Umzug in diese unwirtliche Stadt. Dann sagte er etwas, was mich aufhorchen ließ: „Ich gebe Berlin noch zwei Monate die Chance, mich von ihr zu überzeugen, dann…“ Eine seltsam passivische Ausdrucksweise, fand ich; er war hier derjenige, der tatenlos wartete, dass etwas anderes, also Berlin, die Chance ergriff, ihn zu überzeugen. Bei dieser Haltung sei Ohnmacht kein Wunder, sagte ich ihm, da er ja nicht die Initiative ergreifen und so seinerseits keine Macht über die seine Situation erlangen würde. Sicher, bei der Trennung von seiner Freundin kann man mit einer Änderung seiner Geisteshaltung hin zu mehr Initiative auch nicht viel erreichen, dieser Entscheidung seine Freundin ist er tatsächlich bedingt ausgeliefert. Aber sicherlich hinsichtlich des Kernproblems, mit Berlin nicht klarzukommen, ändert sich die Situation (und deren Wahrnehmung), wenn sich Detlef als handlungsmächtig begreift und selbst etwas unternimmt, um sich vom Für und Wieder Berlins zu überzeugen. Vielleicht ist es dann immer noch schwer, in Berlin gute Freunde und schöne Ort zu finden, aber ohnmächtig muss er sich dann nicht mehr fühlen. Oft ist es nur die Einsicht in die Möglichkeit einer anderen Perspektive oder Geisteshaltung, die den Unterschied macht.
Persönliches zur Philosophischen Beratung
Warum mache ich das überhaupt?
Zur philosophischen Beratung hat mich der Wunsch gebracht, Menschen mit Hilfe der Philosophie zu helfen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es mitunter kompliziert sein kann, seinen eigenen Weg zu finden. Bereits nach der Schule war mir klar, dass Philosophie und soziale Arbeit „mein Ding“ sind. Nur ist Ersteres sehr abstrakt und lebensfern, letzteres genau das Gegenteil und beide also nahezu unvereinbar – dachte ich. Bis ich erfahren habe, dass Philosophie sehr viel mit dem konkreten Leben zu tun hat und nicht nur in Elfenbeintürmen betrieben werden muss. Immerhin waren Philosophen eigentlich von Beginn an, also seit der Antike, sehr nah am Menschen dran und als Ratgeber in lebenspraktischen Belangen tätig. Die Arbeit mit Menschen und mit Philosophie ist also alles andere als unvereinbar – und für mich sehr erfüllend.
Dass ich die Arbeit mit Philosophie und Menschen für sinnvoll und erfüllend halte ist ja schön und gut, aber braucht die Welt einen philosophischen Counselor, und wenn ja, bin ich der richtige dafür? Wenn man sich mit solch einem eher unüblichen Vorhaben selbstständig machen will, sind diese Fragen nicht immer klar und Selbstzweifel nicht nur natürlich, sondern auch angebracht. Was die erste Frage betrifft, scheint mir eine philosophische Herangehensweise an Lebenskrisen und existenzielle Fragen sinnvoll. An wen wendet man sich denn normalerweise, wenn man bei solchen Themen professionelle Hilfe sucht? Da ist zum einen die kirchliche Seelsorge und zum anderen die Psychotherapie. Um die kirchliche Seelsorge ist es schlecht bestellt: Mitglieder verlassen die Kirchen in Scharen, Gott ist keine große Nummer mehr, und frömmelnde Ratschläge a la „Vertraue und bete, dann wird alles gut“ braucht kein Mensch. Die Psychotherapie ist eine hervorragende Einrichtung, die dankenswerterweise vielen Menschen aus Krisen hilft. Doch passen beispielsweise existenzielle Probleme und Gefühle von Sinnlosigkeit und Leere nicht immer in das Raster von Diagnose und Therapie. Außerdem beantwortet Philosophie fundamentale Fragen und Probleme inhaltlich anders als Psychologie, und manchmal passt das besser. Also ja, mehr philosophisches Counseling kann der Welt nicht schaden. Und ob ich für diese Arbeit geeignet bin, läßt sich wohl am besten von der Meinung anderer über mich ablesen. Ausgehend davon fühlt man sich bei mir verstanden, ich höre aufmerksam zu und frage nach, sehr oft und manchmal kritisch, Gespräche sind aufschlußreich, denkanstossend, humorvoll und manchmal anstrengend und was ich von mir gebe ist analytisch, verständlich und manchmal frech. Ich denke, damit kann man arbeiten.
Philosophische Stimmen
Warum noch Aufklärung?
Seit ihrem Auftreten hat die Aufklärung mehr dialektische Volten geschlagen als so mancher Zirkusakrobat, wie Sloterdijk in seinem Werk „Kritik der zynischen Vernunft“ beschreibt. Aber einige Kernideen bleiben für immer gültig, zum Beispiel, wie er es schreibt, „die Vision des freien Dialoges der an Erkenntnis zwanglos Interessierten“. Sein Werk ist nicht zuletzt eine Geschichte der Pervertierung und Verzerrung dieser Vision, da es den Beteiligten fast immer nicht nur um Wahrheit und Erkenntnis geht, sondern auch und oft besonders „um Vormachtstellungen, Klasseninteressen, Schulpositionen, Wunschsetzungen, Leidenschaften und die Verteidigung von Identitäten“ geht. Vielleicht ist die aufklärerische Kernidee eines freien Dialoges unter realpolitischen und -gesellschaftlichen Bedingungen tatsächlich nicht mehr als eine Vision, weil fast immer mehr auf dem Spiel steht als Erkenntnisbefriedigungsinteressen und Lust am Austausch. Derzeit sind die Diskussionen um „woke" Ideen und Forderungen dafür ein gutes Beispiel. Aber vielleicht kann gerade dort eine philosophische Stimme nicht schaden, die ab und an die guten alten Ideen über das wertschätzende, besonnene und gleichberichtigte Ideal von Diskussionen ins Spiel bringt. Oder, wie Sloterdijkt schreibt: „Die heilsame Fiktion des freien Dialogs aufrechtzuerhalten, ist eine letzte Aufgabe von Philosophie“.
Handfeste Gefühlsduselei
Heute und immer mal wieder in der Geschichte ist von der großen Bedeutung der Gefühle die Rede. Stimmt ja auch. Aber ein kleiner Blick in die Geschichte erhellt, wie die Sache mit den Gefühlen eigentlich gemeint ist. Ernst Cassirer beschreibt in seiner „Philosophie der Aufklärung“, wie das Gefühl Eingang in die ach so rationale Aufklärungsphilosophie fand. Und zwar 1777 durch Johann Nicolaus Tetens’ „Philosophische Versuche über die menschliche Natur“, in denen er zwei Arten des Gegenstandsbezugs unterschied: das Gefühl und die sinnliche Wahrnehmung. Die sinnliche Wahrnehmung sagt uns, wie etwas beschaffen ist und das Gefühl sagt uns, was dieses etwas in uns auslöst. Wenn ich eine Spinne sehe, sagt mir der Sehsinn, dass das Tierchen acht Beine besitzt und vielleicht ein bestimmtes Muster auf der Oberseite trägt. Das Gefühl allerdings drückt Faszination und Freude, bei Arachnologen, oder Furcht und Ekel, bei Arachnophoben, aus. Klingt erstmal plausibel und wenig überraschend, aber wir sollten nicht vergessen, dass Tetens das Gefühl als Gegenstandsbezug versteht, also als etwas nach außen Gerichtetes. Nicht als etwas, was selbstgenügsam ausschließlich in unserem Inneren abläuft. Wenn heute in vielen medialen Diskursen von Gefühl die Rede ist, habe ich den Eindruck, geschieht das meist als Anregung, in sich hineinzuhorchen und eine faszinierenden emotionale Welt in sich zu entdecken. Philosophisch bleibt man damit allerdings ziemlich kurzsichtig und auf halbem Wege stehen. Denn was den Blick auf die Emotionen eigentlich spannend macht, ist das Verhältnis von Innen und Außen, die Art und Weise, wie ich emotional auf die Welt und Menschen da draußen reagiere. Faszination und Furcht alleine sagt mir wenig über mich, erst die Furcht oder Faszination als Reaktion auf etwas in der Welt, hier Spinnen, sagt mir, ob ich Arachnologe oder Arachnophobe bin. Auf Gefühle hören ist faszinierend, wenn man begreift, dass sie uns nicht nur etwas über uns selbst erzählen, sondern insbesonders etwas über uns in der Welt.